
Einleitung
Vier Jahrzehnte lang gab es zwei deutsche Staaten. Mit der Wiedervereinigung 1990 war das geteilte Deutschland Geschichte. Neun von zehn Deutschen sagen heute: Die Wiedervereinigung ist gut gelungen. Was bedeutet das Thema für Jugendliche heute? Welche Rolle spielt es in ihrem Alltag und in ihren Familien? Jugendliche aus Deutschland berichten.

1/8 Lasse, 15 Jahre, Berlin
Wann sprecht ihr in eurer Familie über die Wiedervereinigung oder über das Leben damals im geteilten Deutschland?
Wir sprechen oft darüber, es geht dann aber vor allem um Dinge aus der Schule. Ich bin jetzt in der zehnten Klasse und da ist es ein wichtiges Thema in
Geschichte
und in meinem Zusatzkurs Politik. Das Thema
kommt auch immer vor
Was denkst du über die Wiedervereinigung?
Was ist das für eine Brücke auf dem Foto?

2/8 Emily, 17 Jahre, Zwickau
Emily, ist die Wiedervereinigung und die Zeit davor ein Thema in deiner Familie?
Ja, klar. Meine Großeltern sprechen viel über diese Zeit und meine Eltern auch. Sie sind in der DDR groß geworden und erzählen oft, wie es in der DDR, in der
Wendezeit und nach der Wiedervereinigung war. Im vereinten Deutschland war für sie alles neu, sie hatten so viele neue
Eindrücke. Ich finde das alles sehr interessant. Wir behandeln diese Themen auch in der Schule und dann ist es schön, wenn ich von meiner Familie zusätzlich die Geschichten von früher höre.
Wann erzählen sie solche Geschichten?
Oft an Weihnachten, wenn wir mit der größeren Familie zusammen sitzen. Oder an Wochenenden mit meinen Eltern. Wenn ich erzähle, was bei mir so passiert, dann erzählen sie oft, wie es in ihrer Jugend war. Da merke ich immer, wie unterschiedlich wir groß geworden sind.
Was sind denn zum Beispiel solche Geschichten?
Meine Mutter erzählt oft von der Wendezeit. Da war sie mit meiner Schwester schwanger und hat einen Kinderwagen gebraucht. Sie war damals dann sehr froh, dass die Grenzen offen waren, und sie sich im Westen einen schönen Kinderwagen kaufen konnte.
Meine Großeltern erzählen viel von ihrer Arbeit in der DDR. Meine Oma hat im Lebensmittelgeschäft Konsum gearbeitet und mein Opa in der Industrie. Er sagt immer, dass er sehr, sehr viel gearbeitet hat. Er ist sehr früh zur Arbeit gegangen und erst gegen 20 Uhr nach Hause gekommen. Meine Oma erzählt, dass sie damals fast alle Kunden kannte und dass man sich viel mehr mit den Leuten unterhalten hat. Nicht so wie heute, sagt sie, wo einige Leute nicht einmal mehr „Hallo“ sagen.
Welche Bedeutung hat das Thema sonst in deinem Leben?
Es ist schon relevant für mich. Ich finde, dass es die
Teilung in Ost und West auch nach 30 Jahren immer noch irgendwie gibt. Die Mauer ist
zwar weg, aber im Denken ist sie immer noch da. Viele Deutsche haben immer noch
Vorurteile. Ich höre oft: „Ja, du bist eben aus dem Osten.“ Mich stört es nicht so sehr, aber andere werden richtig sauer. Ich glaube, dass es noch sehr lange dauern wird, bis das aus den Köpfen raus ist. Für mich ist dieses Thema auch wichtig, weil ich mich nach dem Abitur
entscheiden muss: Gehe ich vielleicht in den Westen, weil ich dort beruflich bessere Chancen habe, oder bleibe ich hier?

3/8 Ronja, 14 Jahre, Berlin
Ronja, welche Rolle spielt das Thema Wiedervereinigung in deiner Familie? Gibt es Geschichten über diese Zeit in der Familie?
Es spielt bei uns nicht wirklich eine Rolle. Wir reden nicht über das Thema und meine Eltern erzählen auch keine Geschichten über diese Zeit, einfach, weil es für sie nicht so schlimm war. Meine Eltern kommen beide aus der freien
Hälfte von Deutschland, aus dem Westen. Ich verbinde das Thema auch mehr mit meinen Großeltern. Bei ihnen spielt diese Zeit mehr eine Rolle. Meine eine Oma war aus der DDR. Sie ist damals
geflüchtet. Ich habe sie aber nie kennengelernt. Sie ist gestorben, als ich noch klein war. Deshalb weiß ich nichts davon. Es ist komisch: Die Wiedervereinigung ist gar nicht so lange her, aber es ist nicht mehr aktuell –
zumindest bei uns in der Familie nicht.
Was bedeutet das Thema für dich?
Es interessiert mich schon, aber ich weiß nicht viel darüber. Also, im Geschichtsunterricht in der Schule hatten wir das Thema noch nicht. Für mich spielt es aber schon eine Rolle, weil ich eine
enge Verbindung zur
Kapelle der
Versöhnung am Mauerstreifen habe. Ich wurde in der Kapelle nicht nur getauft, wir waren dort auch oft sonntags in der Kirche und danach immer am
Mauerstreifen spazieren. Ich gehe da immer noch oft mit meinem Hund spazieren. An diesem Ort bin ich seit 14 Jahren regelmäßig.

4/8 Olivia, 16 Jahre, Zwickau
Olivia, in welchen Situationen sprecht ihr in deiner Familie über die Wiedervereinigung oder die Zeit davor?
In relativ vielen. Natürlich oft, wenn es um die Schule geht, aber auch, wenn es um Technik oder Reisen geht. Dann sagen meine Eltern immer: „Ja, früher war das ja alles ganz anders. Ihr habt jetzt viel mehr Möglichkeiten.“ Manchmal sagen sie aber auch, dass es früher besser war.
Und was erzählen deine Großeltern von früher?
Meine zwei Omas finden, dass früher auch eine ziemlich anstrengende Zeit war. Für die eine Oma war es besonders schlimm, dass die Familie getrennt war: Die eine Hälfte war im Westen und die andere im Osten. Jetzt kommt das Thema bei ihr aber nicht mehr oft vor.
Sind das geteilte Deutschland und die Wiedervereinigung ein Thema mit deinen Freunden?
Nein, nicht wirklich. In meinem
Freundeskreis sprechen wir nicht darüber. Nur, wenn wir ein paar Fakten aus dem Geschichtsunterricht
auswerten.
Gibt es in deiner Stadt einen Ort, der dich an diese Zeit erinnert?
Ja, es gibt ein altes Haus. Wenn ich dort vorbeigehe, muss ich an die DDR denken. Das Haus steht schon lange leer und
verfällt langsam. Auf dem Haus steht: „Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft“. Die DDR war ja ein enger Partner der Sowjetunion.

5/8 Moritz, 17 Jahre, Chemnitz
Was bedeutet die Wiedervereinigung für dich persönlich?
Wir haben im Geschichtsunterricht natürlich viel darüber gelernt, wie es einmal war. Da ist es schon ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich ein freies Leben habe. In meinem Freundeskreis wird die Wiedervereinigung als selbstverständlich angesehen. Es kann sich eigentlich keiner mehr vorstellen, wie es damals war. Was geblieben ist sind die Witze über Ossis und Wessis.
Deine Eltern sind in der DDR aufgewachsen. Erzählen sie dir etwas darüber?
Tatsächlich erzählen sie ganz viel. Meine Mutti war zur Wende erst 13 Jahre. Mit ihr unterhalte ich mich weniger über das Politische, sondern mehr über das alltägliche Leben. Wie war es damals in der Schule? Wie war der Alltag mit Freunden? Was hat man damals gemacht? Da denke ich mir oft, das hört sich eigentlich ganz normal an.
Wurde diese Jugendkultur nicht vom Staat eingeschränkt?
Es war sicherlich anfangs nicht erwünscht. Aber der Staat konnte die Breakdance-Kultur nicht mehr aufhalten. Weil die Jugendlichen so begeistert davon waren, hat er Breakdance dann sogar gefördert.
Erzählen deine Großeltern auch Geschichten aus dieser Zeit?
Mein Opa wollte zum Beispiel
Schiffsbau in Rostock studieren, durfte aber nicht. Er hat sich dann für ein anderes Studium entschieden.
Denkst du, sie haben sich mehr Möglichkeiten gewünscht?
Das haben sie so nie gesagt. Aber ich denke, dass sie sicher gern mehr Freiheiten gehabt hätten. Die Menschen haben ja Wege gefunden, an Medien aus dem Westen heranzukommen und einen Blick in die Welt zu werfen. Meine Oma hat immer ganz begeistert von den
Westpaketen mit exotischem Inhalt erzählt. Viele Dinge wie Schokolade aus dem Westen oder auch bestimmte Kleidung waren etwas Besonderes. Als der Trend mit dem Hip Hop kam, wollte mein Papa natürlich auch diese Kleidung. Die war aber in der DDR schwer zu bekommen. Seine Freunde und er haben sich die Anzüge dann einfach selbst genäht. Die Menschen waren sehr erfinderisch.

6/8 Hannah, 19 Jahre, Schleiz
Was bedeutet die Wiedervereinigung für dich persönlich?
Meine Eltern sind in der DDR aufgewachsen und meine ganze Familie lebt in Ostdeutschland. Sie sprechen auch immer wieder mal darüber. Ich finde zum Beispiel Grenzkontrollen komisch. Für meine Eltern war das normal. Für mich gibt es nicht so wirklich Grenzen. Ich kann eigentlich überall hin, wo ich hin will.
Erzählen sie dir auch konkrete Geschichten oder waren sie damals vielleicht noch zu jung?
Meine Mutter hat zur
Wendezeit studiert. Mein Vater war 30 Jahre alt. Sie haben schon viel miterlebt. Mein Vater musste seinen
Grundwehrdienst leisten. Wir wohnen in Südthüringen in der Nähe der Grenze zu Bayern. Sie waren gar nicht so weit von allem weg, was im Westen geschah. Sie erzählen manchmal, dass es hier nicht so viel gab, zum Beispiel Obst und dass die Leute viel miteinander getauscht haben.
Kannst du dir vorstellen, wie das Leben in einem geteilten Land war?
Ich kann mir das nicht vorstellen. Es waren alle Deutsche, die aber in zwei ganz unterschiedlichen Ländern lebten. Ich finde, es gibt auch heute noch ein paar Unterschiede. Manchmal gibt es Vorurteile, zum Beispiel, dass die Ostdeutschen mehr zusammenhalten oder die Westdeutschen ihr eigenes Ding machen. Diese Grenze existiert noch immer in manchen Köpfen. Leider.
Sprecht ihr im Freundeskreis darüber?
Ja. Wir sind jetzt alle um die 20 Jahre alt. Einige machen ihre Ausbildung, andere studieren. Es betrifft uns also, wenn wir ins Berufsleben einsteigen. Es gibt welche, die hier in der Gegend wohnen, aber nach Bayern zum Arbeiten gehen, weil sie dort mehr Geld verdienen. Die Wiedervereinigung bleibt ein Thema, weil es immer noch diese Unterschiede gibt.

7/8 Fabian, 14 Jahre, Sassnitz
30 Jahre liegen für einen Jugendlichen ganz schon weit zurück. Was bedeutet die Wiedervereinigung für dich persönlich?Was glaubst du, was denken die älteren Leute darüber?
Ich bin sicher, dass viele denken, dass früher alles besser war oder auch schlechter. Aber wenn ich in meiner Familie oder bei Bekannten danach frage, dann ist das nicht so. Sie haben sich einfach gefreut, dass sie nach der Wiedervereinigung einige Dinge kaufen konnten, die es vorher in der DDR nicht gab. Wenn ich meinen Großvater frage, ob es früher schwierig war, sagt er eigentlich nur: Ich hatte genug zum Leben.
Habt ihr im Geschichtsunterricht schon etwas über die Wiedervereinigung gelernt?
Nein, wir sind gerade beim Ersten Weltkrieg. Aber die wichtigsten Dinge weiß ich darüber. Also, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeteilt wurde, Mauerbau und Fall der Mauer.
Sprecht ihr im Freundeskreis über die Wiedervereinigung?
Nein.
Woher kommen diese Unzufriedenheiten?
Ich glaube, dass einige Menschen aus dem Osten das Gefühl haben, dass die Politik nicht so auf sie achtet. Uns geht es ja nicht schlecht im Osten. Aber wenn man in den Westen schaut, sehen viele die höheren Löhne.

8/8 Mila, 18 Jahre, Chemnitz
Hat die Wiedervereinigung für dich persönlich eine Bedeutung?Wie war das für deine Mutter?
Meine Mutter war ungefähr 20 Jahre alt. Sie hat in einem Supermarkt gearbeitet und Kunden haben ihr vom Mauerfall erzählt. Alle haben sich gefreut.
Was haben dir deine Eltern über das Leben in der DDR erzählt?
Meine Mutter war zum Beispiel an einer Sportschule. Dort war Leistung sehr, sehr wichtig. Meine Großeltern wollen über das Leben in der DDR gar nicht sprechen. Sie erzählen nur so kleine Sachen aus ihrer Kindheit, aber nie etwas darüber, ob und wie sie eingeschränkt wurden. Ich habe aber auch noch nicht nachgefragt.
Kannst du dir vorstellen, wie es für die Menschen früher war?
Ich habe ein
Auslandsjahr in China gemacht. Und dort konnte ich es schon ein bisschen
nachfühlen, wie es für die Menschen in der DDR war. Aber so wirklich vorstellen kann ich es mir nicht.
Denkst du, dass es heute noch einen Unterschied macht, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt?
Ich finde, es gibt schon Unterschiede, aber keine großen. Man merkt das aber eher bei den älteren Leuten. Wenn ich zum Beispiel jüngere Leute aus Hamburg treffe, dann sind die nicht wirklich anders.