Ein junger Mann steht vor dem Ortsschild Hirschfeld, Rhein-Hunsrück-Kreis
© Eduardo Reitz

Auf den Spuren meiner Vorfahren, der Familie Reitz

Während seines Stipendienaufenthalts 2019 in Deutschland begibt sich Eduardo Reitz auf die Spuren seiner Vorfahren im Hunsrück. In seinem Bericht schreibt er über die deutsche Auswanderung nach Brasilien und über seine ganz eigene Familiengeschichte.

Die Literatur spielte im 19. Jahrhundert die Rolle, die die heutigen Medien, das Internet und die Streaming-Dienste spielen. Viele Bücher, insbesondere Abenteuer- und Reiseliteratur, faszinierten die friedlichen deutschen Arbeiter für eine idealisierte Welt hinter dem Meer – nämlich die Tropen, die fernen südamerikanischen Länder. Paradies nennt es der eine, Eldorado sagt der andere. Hyperbolische Namen für dasselbe Phänomen: Brasilien.

Nicht zufällig ließen sich viele Autoren von der anderen Seite der Erde – aus Deutschland – inspirieren. Diese Texte erschienen in Zeitungen und literarischen Zeitschriften. „Jedem sein Paradies“ und „Die Auswanderer nach Brasilien“, von Otto Grellert und Amalia Schoppe, stellten höchst glaubwürdig die Erwartungen der Auswanderer vor der Abreise und ihrer Heilung von dem brasilianischen Fieber dar – die enttäuschende Entdeckung, dass der erwartete Garten Eden genauso unheilig wie die eigene Heimat sei, wurde ihnen jedoch schnell bewusst. Aus fast allen Fiktionen über Migration lässt sich aber eine von Peter Rottmann herausstellen:

Liesekett:
Willst du, Hannes, nach Brasilien, ziehen,
wo dich Schlangen und die Affen kriegen?
Ach, dann stirbt deine Liesekett!
Wer soll mich denn zur Tanzmusik fahren,
wenn ich nun meinen Freund verliere,
Ach, ich wollte, dass dich der Teufel holt.

Hannes:
Dummes Mädchen! Warum weinst du so?
Ich will es nun mal nicht anders,
Und das habe ich dir schon lange gesagt:
Wenn es so viele andere Leute versuchen,
kann ich das auch, ich habe nichts zu verlieren.
Wie es einem anderen geht, so geht es mir auch.

Liesekett:
Jetzt höre ich Dich morgens nicht mehr blasen,
ohne Hirt und Hüter sind die Ochsen,
die dein Urgroßvater schon gehütet;
Wo Du hingehst, braucht man nichts zu arbeiten,
kann den Kaffee mit den Händen sammeln
Geh, du Schlechter, bist mir nicht mehr gut.

Hannes:
Liesekett, wie kannst du nur so reden?
Lässt du Dich von schlechten Leuten aufhetzen?
Kennst du mich denn noch nicht besser, sage?!
Sei zufrieden! wenn ich viel Geld,
hier in dem neuen Land verdiene,
komm ich wieder, und du wirst meine Frau.

Das Ende der Geschichte des Paars bleibt unbekannt, aber das Gedicht ist bezaubernd, weil es eines der besten Beispiele für die Gefühle, Hoffnungen und Trauer der Auswanderer hinsichtlich des neuen Lands war, wo man nicht arbeiten müsse, denn da sei es übertrieben fruchtbar.

Das Gedicht wurde ursprünglich nicht auf Hochdeutsch verfasst. Rottmann schrieb „Der Abschied aus Gedichte in Hunsrücker Mundart“ im Dialekt aus dem Hunsrück, nämlich Hunsrückisch. Diese Region wird hoch geschätzt in vielen Gebieten in Südamerika, denn sie war jahrelang der Geburtsort und das Heimatland von vielen Vorfahren, bevor sie im 19. Jahrhundert beschlossen, nach Brasilien auszuwandern.

Doch was ist geschehen, damit hunderte Arbeiter, Siedler, Handwerker und ganze Familien ihr Zuhause verließen, um ein irdisches, verstecktes Paradies in Brasilien aufzusuchen? Auf der anderen Seite fragen sich die Migranten: „Was ist bei den Gebliebenen geschehen?“

Auf den Spuren meiner Vorfahren in Deutschland

Aufgrund dieser Frage bin ich während meines Blickwechsel-Stipendienaufenthalts mit meinem Gastvater durch die kleinen hunsrückischen Dörfer gefahren. Auf den Spuren meiner Familie suchte ich meine Verwandte.

Mit meiner Gastfamilie beschlossen wir am Anfang: In den Herbstferien würden mein Gastvater, Klaus, und ich unser kleines Dorf in Niedersachsen für ein paar Tage verlassen und mit dem Zug nach Rheinland-Pfalz fahren. Klaus hatte aus persönlichen Gründen ein großes Interesse an der Geschichte: Früher war er selbst nach Polen gereist, um seine Verwandten zu suchen.

Wir sammelten die Dokumente, stiegen in den Zug ein und fuhren in die unebene, von Weingütern umgebene und lebhaften hunsrückischen Gebiete, die ich bisher lediglich auf Bildern oder durch die Kameralinse des bekannten Regisseurs Edgar Reitz gesehen habe.

Ein wahrscheinlicher Grund für das brasilianische Fieber um 1840, außer dem Interesse der brasilianischen Regierung, liegt an einer hundertjährigen verordneten Maßnahme: die Schöpfung der öffentlichen Bildung. Wegen Einführung der Schulpflicht durch Friedrich Wilhelm I., die es so zuvor nicht gegeben hatte, wurde die Analphabeten-Rate reduziert.  Heute erfährt man etwas über das Ausland im Internet oder Fernsehen. Damals waren es die Lesekreise, die in den größten Städten zu finden waren, in denen man Nachrichten über die Neue Welt bekam. In solchen Lesekreisen wurden viele Bücher über Abenteuer und Reisen in Südamerika verteilt. Der Einfluss von diesen Büchern war so groß, dass der Regisseur Edgar Reitz behauptete, wer lesen könne, wolle auswandern. Nicht zufällig verkauften zahllose Auswanderer alles, was sie hatten, um nach Brasilien zuziehen.

Im Jahr 1846 beschloss Johann Reitz, mit seiner Frau und den Kindern nach Brasilien zu reisen. Höchstwahrscheinlich ließ er sich von der idealisierten Beschreibung vom tropischen Brasilien verführen und verkaufte seine zwölf Hektar Grundbesitz an seinem Bruder. Die Reise dauerte neun Monate. Die Bedingungen der Reise waren sehr schwierig und gesundheitsschädlich. Eine Menge Auswanderer sind unterwegs ums Leben gekommen und mussten im Meer beerdigt werden.

In der neuen Welt wurden die Auswanderer in der Stadt allein gelassen, ohne Kenntnis der einheimischen Sprache. Sie haben für Monaten gebettelt, bis sie endlich von Deutschen, die in Brasilien schon wohnten, Hilfe bekamen. So kamen sie nach Desterro (heute: Florianópolis), Santa Catarina, und konnten anschließend in der neuen Heimat untergebracht werden: eine Kolonie im Innenland von São Pedro de Alcântara, 31 Kilometer von Desterro entfernt.

Aber in Hirschfeld, Deutschland, ist das Leben dasselbe geblieben. Johann Jakob hatte die Länder seines Bruders übernommen und vermachte sie immer dem Erstgeborenen laut der hunsrückischen Tradition. Irmgard Ströher, die uns in ihrem Haus willkommen hieß, erbte sie von ihrem Vater, Leo Müller, dessen Abstammung bis auf Margarethe Reitz zurückgeht: Johann Jakobs Enkelkind. Eine komplizierte, verstrickte Familienkette, die noch eine lebendige Verwandtschaft zwischen uns pflegt.

Cover eines alten Buches mit dem Titel „Frutos de Imigração“ © Eduardo Reitz

Zu meiner Überraschung hatte sie auch ein Exemplar desselben Buches, das mich in meiner Kindheit fasziniert: „Frutos de Imigração“ – ein „religiöser“ Leitfaden für die Geschichte unserer Familie. Eine Besonderheit: auf der ersten Seite gab es eine Widmung von Reitz an Leo Müller. „Leo Müller, Herzliche Grüße von P. Raulino Reitz“. Ich blätterte es durch und fand die gemeinsamen Namen unserer Vergangenheit. Frau Ströher zeigte ein Foto: „Da bin ich bei dem ersten Besuch vom Priester Reitz“, sagte sie über ein Bild von 1956. Sie gab allerdings zu, dass sie das gesamte Buch nie durchlesen konnte, da es auf Portugiesisch war.

Sie zeigten mir Bilder von der Familie, den Kindern, Enkelkindern. Sie berichtete mir über ihre Beziehung zu Brasilien und ihre Reise durch das Land – ja, sie waren in Santa Catarina gewesen! Wir versprachen am nächsten Abend, sie nochmal zu besuchen, damit ich den Sohn der Ströher kennenlernen konnte. Zufällig würde er mit seiner Musikgruppe „Hunsrücker Bloosmusik“ nach Brasilien reisen.

Blick auf Hunsrück © Eduardo Reitz
 

Beim Abschied habe ich versprochen, dass alte Buch ins Deutsche zu übersetzen, damit sie es endlich lesen könne. Obwohl der Name Reitz im Lauf der Jahre von Hirschfeld abgelöst wurde, bleibt er ein Symbol, das noch auf den Hügeln des Hunsrücks zu finden ist und trägt die vitale Energie der Geschichte mit. Solange er vorkommt, bleibt der Name in Brasilien und in Deutschland unsterblich.

Ich danke meiner Familie, die mir dabei geholfen hat, die Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit zu legen; meiner Gastfamilie (Klaus, Ute und Henrike) für die fleißige Teilnahme an diesem Traum; den Ströher dafür, die Verbindung mit dem Vergangen und eine entfernte Verwandtschaft so lieb zu pflegen; dem Goethe-Institut und YFU dafür, meinen Traum und den von anderen Jugendlichen zu ermöglichen; meiner Lehrerin Elaine dafür, mir zu helfen, als alles nur eine Vorstellung war; und dem Priester Raulino Reitz, der eine kristallisierte Zeit konserviert hat.