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Serbien und Deutschland

1.300 Kilometer und ein Klick

Collage aus zwei Bildern: Links sitzt ein Mädchen auf einem Poller. Rechts steht ein Junge auf einer Aussichtsplattform
© Goethe-Institut Serbien, Fotos: Aaike Stuart und Aleksandar Kalezić

Was hängt in eurer Wohnung an der Wand? Welche Süßspeise isst man in deiner Familie? Glaubst du an Gott und warum? Das Filmprojekt „1.300 Kilometer und ein Kick“ dokumentiert, wie Jugendliche aus Berlin und Serbien trotz großer räumlicher Distanz die Annäherung wagen.

Sechs Monate haben sich neun Schülerinnen und Schüler aus Valjevo (Serbien) und zehn Schülerinnen und Schüler der Fritz-Karsen-Schule in Berlin digital ausgetauscht. Entstanden sind aus diesen Begegnungen Filme mit authentischen Porträts, die Spaß machen und berühren.

Initiiert wurde das Projekt von Tina Oparnica, Expertin für Unterricht am Goethe-Institut Serbien. Regie führte Theaterpädagogin Uta Plate. Aaike Stuart (Bildregie und Schnitt) und Jelena Bosanac (künstlerischen Mitarbeit) vervollständigten das Team. Fast ein ganzes Jahr arbeiteten sie gemeinsam an der Umsetzung.

Im Interview sprechen Tina Oparnica und Uta Plate über den Entstehungsprozess und auch über das, was in den Filmen nicht zu sehen ist.

Wie seid ihr zusammengekommen?

Tina Oparnica: Anfang 2021 war die Corona-Pandemie im vollen Gang. Also haben wir überlegt, wie trotz Pandemie Vernetzung stattfinden kann und zwar auf theaterpädagogische Weise. Uta und ich sind durch eine Empfehlung aufeinandergetroffen und der Funke ist sofort übergesprungen. Ich hatte einen Film  von ihr gesehen mit dem Titel „Wir sind Gestern, Heute, Morgen“. Das hat mich sehr überzeugt und gezeigt, dass auch auf digitalem Weg Begegnungen möglich sind, die nicht nur an der Oberfläche bleiben.

Uta Plate: In diesem Film – meine erste Arbeit mit dem Videokünstler Aaike Stuart –  haben wir alte und junge Menschen zusammengebracht. Ich habe aber auch schon einige Jugendprojekte im internationalen Kontext durchgeführt, zum Beispiel zu Narrativen des 2. Weltkriegs, zum Thema ziviler Ungehorsam und zu 30 Jahre Mauerfall. Will man aus Fremd- oder Fernbildern und Stereotypen – selbst aus übertrieben positiven – Nahaufnahmen machen, dann muss man Menschen zusammenbringen, auf welche Art und Wiese auch immer.

Um was geht es bei „1.300 Kilometer und ein Kick“? Wie ist das Projekt aufgebaut?

Uta Plate: Wir – Aaike Stuart und ich –  haben uns gefragt, wie kann man das, was alle jungen Menschen universell verbindet, ins Spiel bringen und gleichzeitig aber auch das, was sie unterscheidet. Ich habe mir für das Projekt dann vier Aktivitäten ausgedacht.

Zuerst ging es um den längsten Tag im Jahr. Die Jugendlichen haben mit dem Handy oder einer Kamera gefilmt, wie sie die Sommersonnenwende, also den Abend des 21. Juni, verbracht haben. Dadurch haben sie sie einen ersten Einblick in die Lebenswelt der anderen erhalten.

Dann wollten wir wissen, welche Fragen sie an die anderen haben. Wir haben mit den Jugendlichen aus dem jeweiligen Land die Fragen gesammelt und alle haben einzeln eine Auswahl davon spontan über Zoom gegenseitig beantwortet, was auch aufgezeichnet wurde.

Die dritte Aktivität beschäftigte sich mit den Unterschieden. Die Jugendlichen hatten die Aufgabe, ihr Zuhause – das Bild an der Wand, das Objekt auf dem Küchentisch – anhand von zehn Fotos als Kunstausstellung zu präsentieren. Die Zeichnung von einer selbstbewussten Frau, Slava-Speisen, das Porträt vom Familienpatron, muslimische und religiöse Zeichen, ein Elvis-Presley-Poster in Lebensgröße: Daran hat man die individuellen und die familiären Unterschiede sofort erkannt.

Dann kam das Matching zu acht Zweier-Gruppen und einer Dreier-Gruppe, das Herzstück des Projekts. Nach diesen Einzelaufgaben und zusätzlichen Einzelgesprächen habe ich geahnt, wer zusammenpasst und wo womöglich Freundschaften entstehen. Bei anderen habe ich gespürt: Das wird interessant… das wird ein Risiko…

Für die Arbeit in den Kleingruppen haben die Schülerinnen und Schüler einen Leitfaden an die Hand bekommen. Sie konnten sich zum Beispiel gemeinsam eine Challenge ausdenken, über kulturelle Besonderheiten oder ein für beide Seiten wichtiges Thema austauschen oder gemeinsam eine Performance erarbeiten. Die Vorgabe war, alles auch filmisch mitzudenken.

„1.300 Kilometer und ein Klick“ als PASCH-Youtube-Serie

Wie sind die Treffen zu zweit oder zu dritt dann konkret abgelaufen? Können Sie ein Beispiel geben?

Uta Plate: Milica hat im Interview zum Beispiel gesagt, sie möchte gerne jemandem Mut machen und Kraft geben. Und Clara hat gesagt: Ich suche jemanden, mit dem ich eine Zeit verbringe, die ich so nicht vergessen werde und die mir Kraft gibt. Ich habe gespürt, Mut ist für beide ein großes Thema, also habe ich sie zusammengebracht. Das mit der Spoken Word Performance war dann ihre Idee. Ich habe noch vorgeschlagen: Macht die Performances doch an Orten, die euch Kraft geben und für euch wichtig sind. Den beiden musste ich aber nur ab und zu helfen. Das war quasi ein Selbstläufer.

War das immer so?

Uta Plate: Nein, andere Paare haben wir  engmaschiger begleitet. Elementar war auch hier die künstlerische Zusammenarbeit mit Jelena Bosanac, einer in Berlin ansässige serbische Theaterpädagogin, die übersetzen konnte und auch informell Kontakt gehalten hat. Zum Beispiel: Vuk hat sich gar nicht bei seiner Partnerin gemeldet. Für mich war dann klar: Über den Wettbewerbsgedanken kriegen wir ihn. Also gehen wir auf ein Format, wo sich beide in einer Challenge begegnen und wir haben einen Live-Battle im Videocall ausgerichtet.

Einige Filmsequenzen sind mit Handy oder über Zoom aufgenommen. Der Film enthält aber auch sehr professionelle Aufnahmen. Wie sind diese entstanden?

Uta Plate: Die Aufnahmen verdanken wir der professionalen Kameraarbeit von Aaike Stuart (in Deutschland) und Aleksandar Kalezić (in Serbien), die jeden Jugendlichen einzelnen porträtiert haben. Das ist wichtig neben der ganzen Handy- und Tik-Tok-Ästhetik. Dadurch hat der Film einen Qualitätsrahmen, der ihn trägt, der Lust auf mehr macht. Die Schülerinnen und Schüler haben sich dafür ihre Lieblingsorte ausgesucht und was sie machen wollen – das waren alles ihre Entscheidungen. Sie mussten sich bei diesen Aufnahmen technisch um nichts kümmern – das haben wir gemacht – dadurch kommt man ihnen noch mal etwas näher.

Diese Porträts waren mit als erstes fertig und dann haben wir sie auch gezeigt. Das war wichtig, um die Jugendlichen bei Laune zu halten.

Welche Tipps haben Sie noch, damit Jugendliche bei einem so langen Online-Projekt dabei bleiben?

Uta Plate: Auch die Paare haben in der Gruppe immer wieder ihre Zwischenergebnisse präsentiert und sich helfen lassen. So kam es nicht zu Vereinzelungen.

Bei allen Film- und Zoom-Projekten sollte man zwischendurch auch Theater- und Impro-Spiele machen und gemeinsam zu lauter Musik tanzen und sich im Raum bewegen, damit nicht alles immer nur im Kopf stattfindet.

Außerdem würde ich bei solchen Projekten empfehlen, dass sich die Jugendlichen etwas zuschicken, etwas zum Anfassen, zum Beispiel eine Wer-bin-ich-in Gegenständen-Box.

In welcher Sprache fand der Austausch mit den serbischen Jugendlichen statt?

Uta Plate: Einige wenige Schülerinnen und Schüler sprechen sehr gut Deutsch. Bei anderen war es online schwer, darauf zu bestehen. Manchmal haben wir Englisch gesprochen. Außerdem hat Jelena Bosanac mich unterstützt und übersetzt. Ohne sie wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Wenn man darüber hinausgehen will, dass nur Personen mitmachen, die sehr gut Deutsch sprechen, und wenn es in die Tiefe gehen soll, dann braucht man eine Muttersprachlerin oder einen Muttersprachler.

In den Filmen sprechen die serbischen Jugendlichen Deutsch, zum Beispiel beim Beschreiben der Fotos, die sie bei sich zu Hause gemacht haben. Das hört sich doch sehr gut an.

Uta Plate: Danke, das ist schön zu hören. An diesen Tonaufnahmen haben wir hart gearbeitet. Manchmal saßen wir an ein paar wenigen Sätzen mehrere Stunden. Wir haben die Betonung geübt. Außerdem haben wir auch daran gearbeitet, die Sätze etwas lockerer zu formulieren. Die serbischen Schülerinnen und Schüler mussten wirklich schwitzen.

Tina Oparnica: Vielen Schülerinnen und Schülern war zu Beginn des Projekts bestimmt nicht bewusst, wie viel Arbeit dahintersteckt. Das Projekt hat sich ja über einen langen Zeitraum erstreckt und die Aufgaben waren nicht immer einfach. Sie haben sich da auch durchgekämpft. Es ist auch ein Erfolg des Projektes, dass sie dran geblieben sind.

War es die Mühe wert?

Uta Plate: Wir waren mit dem Film zu dem Festival Theatertage am See in Friedrichshafen eingeladen. Drei serbische Jugendliche haben das Projekt dort vertreten. Die Aufführung war ein voller Erfolg. Die Jugendlichen wurden so gefeiert und auf Händen getragen. Die Leute haben gelacht, waren betroffen, waren gerührt. Es gab Szenenapplaus und Standing Ovations. Damit haben wir nicht gerechnet. Die Reaktion war phänomenal. Die viele Mühe hat sich mehrfach ausgezahlt.

Wie wurde die Schule in Berlin für das Projekt ausgewählt?

Die Fritz-Karsen-Schule gehört zum Programm „Kulturagenten für kreative Schulen Berlin“. Der Agent oder die Agentin bemüht sich um Kulturprojekte für die Schule. Ich hatte schon mal ein Projekt dort und finde die Schule wunderbar, weil sie sehr divers ist und die Lehrkräfte sehr engagiert sind. Also habe ich die Kulturagentin gefragt, ob sie mir auch für dieses internationale Projekt jemanden von der Schule vorschlagen könnte. So ist der Kontakt zu der Lehrkraft und den Teilnehmenden der DS-Klasse entstanden. DS heißt „Darstellendes Spiel“ und ist ein Schulfach in Berlin, man kann es auch im Abitur einbringen.

Was nehmen Sie und die Teilnehmenden aus dem Projekt mit?

Uta Plate: Ich kann nicht für die anderen sprechen und das ist ja sehr individuell. Aber ich glaube, man kann sagen, dass sie erfahren haben, dass auch in einer Pandemie, die die Grenzen und Hemmschwelle eher verstärkt, eine andere Erfahrung von Berührung möglich ist. Deswegen war es mir auch wichtig, die Personen zuzuordnen. Ich wollte schon, dass sie etwas miteinander anfangen können. Auch weil es im Moment wieder Trend ist, die Nation und Nationalisierung so in den Vordergrund zu stellen. Sie haben gemerkt, dass sie jenseits der nationalen Grenzen Menschen finden können, mit denen sie vielleicht mehr gemeinsam haben als mit ihren Nachbarn.

Natürlich gehört auch Mut dazu, mit jemanden zu sprechen, den ich nicht kenne, diese Unsicherheit muss man erst einmal überwinden. Aber dieses Erfolgserlebnis hatten sie jetzt und sie haben einen Film, den sie immer wieder anklicken können. Das gibt auch Rückenwind für die nächsten Kontakte: Wenn ich einmal meine Komfortzone verlassen habe und das wird belohnt, dann mache ich das wieder.

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