Wie leben jüdische Jugendliche in Deutschland heute? Wie sieht ihr Alltag aus? Welche Traditionen sind ihnen wichtig? Was bewegt sie und was wünschen sie sich für die Zukunft? Daniela (18 Jahre) aus Nürnberg und Benjamin (17 Jahre) aus Hof erzählen.
1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Seit 1.700 Jahren leben Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland. Dieses Jubiläum wird 2021 mit zahlreichen Veranstaltungen und Projekten gewürdigt. Sie sollen möglichst vielen Menschen die jüdische Geschichte und den Alltag jüdischer Menschen in Deutschland näherbringen. Zugleich setzt das Jubiläumsjahr ein Zeichen gegen Antisemitismus.
Begegnungsprojekt „Meet a Jew“
Dieses Ziel hat auch das Begegnungsprojekt „Meet a Jew“ (auf Deutsch: Triff einen Juden/eine Jüdin). Das Projekt gibt es schon etwas länger. Es wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland organisiert. Daniela und Benjamin gehören zu den 300 Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern, die sich ehrenamtlich engagieren. Sie besuchen Schulen, Universitäten, Sportvereine, zurzeit nur online, und geben einen ganz persönlichen Einblick in ihr Leben. Außerdem beantworten sie Fragen. „Informell, unkompliziert und auf Augenhöhe“, heißt es auf der Website. „Als wir, eine Freundin und ich, uns einmal vorgestellt haben, hat ein Teilnehmer ganz große Augen bekommen und gesagt: ‚Was? Ich habe mir einen Juden so gar nicht vorgestellt‘“, erzählt Daniela. „Das ist unser Ziel: Wir wollen zeigen, wir sind wie die anderen.“
Religionsunterricht in der Synagoge
Daniela geht in die 12. Klasse der Fachoberschule, Benjamin besucht die 10. Klasse eines Gymnasiums. Wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler in der Schule in den Religions- oder Ethikunterricht gehen, haben sie eine Freistunde. Dafür besuchen sie mit Gleichaltrigen aus ihrer Stadt einmal in der Woche den Religionsunterricht ihrer jüdischen Gemeinde. Hier lernen sie viel über die Regeln, Bräuche und Feste sowie die Geschichte des Judentums. Daniela trägt das, was sie lernt, auch in ihre Familie: „Meine Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Damals war es dort verboten, jegliche Art von Religion auszuüben. Sie kennen das alles nicht. Im Prinzip bringe ich es ihnen bei.“
Thora, Schabbat und Kaschrut
Die Thora ist die Heilige Schrift des Judentums und beinhaltet für religiöse Jüdinnen und Juden die Regeln für ein gutes Leben. Wie in anderen Religionen gibt es Gläubige, die das Religionsgesetz strikt befolgen, andere passen ihren Glauben an den modernen Alltag an.
Benjamin betet jeden Morgen und wickelt sich dafür die Gebetsriemen um den linken Arm und die Stirn. Fast jeden Freitag, manchmal auch Samstag, geht er – wenn die Corona-Beschränkungen es erlauben – zum Schabbat- Gebet in die Synagoge. Schabbat ist der siebte Wochentag und ein Ruhetag im Judentum, an dem man nicht arbeiten soll. „Man darf auch nicht schreiben oder elektronische Geräte benutzen“, erklärt Benjamin. Daran halte er sich aber nicht. „Manchmal mache ich meine Hausaufgaben am Samstag und ruhe mich aus, indem ich mir YouTube-Videos anschaue.“
„Ich bin nicht streng religiös“, sagt Daniela. „Ich versuche am Freitagabend zum Gebet zu gehen, halte mich aber nicht an die Kaschrut-Regeln.“ Das sind die jüdischen Speisevorschriften. „Meine Familie hält schon ziemlich viel ein“, erklärt Benjamin. Wir essen kein Schwein, trennen milchig und fleischig und haben dafür auch getrenntes Besteck.“
Die Jugendlichen besuchen die jüdische Gemeinde nicht nur für den Religionsunterricht und zum Gebet. Sowohl in Nürnberg als auch in Hof gibt es ein jüdisches Jugendzentrum. Daniela ist sogar Jugendleiterin und organisiert die Treffen für Kinder und Jugendliche. Wegen Corona waren persönliche Treffen in den letzten Monaten nicht möglich. Davor seien die Jugendlichen seiner Gemeinde, erklärt Benjamin, so gut wie jeden Sonntag zusammengekommen. Oft haben sie die Treffen genutzt, um Theaterstücke und Aufführungen für wichtige jüdische Feiertage vorzubereiten.
An Pessach essen wir Matzenbrot.
Benjamin hat mehrere jüdische Lieblingsfeste. Zum Beispiel mag er das Lichterfest Chanukka. Aber auch das Pessachfest ist ihm wichtig: „Wir feiern damit den Auszug der Juden aus Ägypten. Dort waren sie Sklaven und mussten fliehen. An Pessach essen wir Matzenbrot. Es besteht aus ungesäuertem Teig und erinnert daran, dass die Juden damals keine Zeit hatten, das Brot richtig zu backen.“ Im Ritual des Festes kann jede jüdische Generation diese Erfahrung der Befreiung durch Gott neu machen.
Zu Hause bereitet Benjamins Mutter die traditionellen Gerichte zu, Benjamin und seine Schwester helfen mit. „Ich mag am Judentum, dass viele – auch Personen, die nicht religiös sind – die Traditionen beibehalten, dass man sich an vieles erinnert, seine Wurzeln gut kennt und weiß, woher man stammt. Ja, ich mag diese Verbundenheit.“
Feriencamps und Jewrovision
Daniela unternimmt ebenfalls viel in der jüdischen Gemeinschaft. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. veranstaltet zum Beispiel Feriencamps. Sie war schon öfter mit von der Partie. Neben Freizeitaktivitäten und Workshops leben die Jugendlichen in den Camps auch gemeinsam ihren Glauben. Das Beten gefällt ihr dabei besonders gut. „Im jüdischen Gebet wird eher gesungen und in den Camps verwenden wir dabei modernere Melodien als beim Beten in der Synagoge.“
Mit großer Begeisterung spricht Daniela auch von dem Musikevent Jewrovision, ein Gesangs- und Tanzwettbewerb in Anlehnung an den Eurovision Song Contest. Jüdische Jugendzentren aus ganz Deutschland kommen zusammen und treten mit einem Lied und einer Performance gegeneinander an. „Da habe ich auch schon mitgemacht. Singen kann ich nicht“, lacht Daniela. „Aber ich habe getanzt.“ Das Schönste sei, bei der Veranstaltung Freundinnen und Freunde aus ganz Deutschland wiederzusehen.
Antisemitismus und Aufklärung
Sowohl in der Schule als auch in der Öffentlichkeit haben Daniela und Benjamin bereits Erfahrungen mit unreflektierten Äußerungen über den Holocaust und mit Judenfeindlichkeit gemacht. Daniela trägt einen Davidstern an einer Halskette. „Ich habe dafür schon sehr viele böse Blicke bekommen und weiß, dass sich viele meiner Freunde nicht trauen, öffentlich zu zeigen, dass sie jüdisch sind. Es sollte einfach kein Problem sein.“
„Was ich mir für die Zukunft wünsche? Dass Leute gegenüber Juden nicht so zurückhaltend sind. Man sollte offener auf uns zugehen. Wir sind auch bloß Menschen. Je offener Menschen miteinander umgehen, umso besser. Dann fühlt man sich nicht komisch, man fühlt sich nicht anders, sondern man merkt: Das Einzige, was uns unterscheidet, ist die Nationalität oder der Glaube oder sonst was“, sagt Benjamin. „Ich kann da, glaube ich, für viele jüdische Jugendliche sprechen. Wir freuen uns, wenn die Leute auf uns zugehen. Auch wenn sie viele Fragen haben, das ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, die beantworten wir gerne.“