Angesichts des massiven Ausbaus von Ganztagsschulen stehen Vereine in Deutschland vor ungeahnten Problemen. Einige suchen die Lösung in der Kooperation mit Ganztagsschulen, um den Nachwuchs zu rekrutieren.
In den vergangenen Jahren sind rund 7.200 Ganztagsschulen entstanden. Angesichts ihrer massiven Gegenwart suchen Vereine nach neuen Wegen, den Nachwuchs zu erreichen. Studien legen nahe, dass insbesondere Vereine in dünn besiedelten ländlichen Gebieten vom gesellschaftlichen Wandel bedroht sind, beispielsweise durch zunehmenden Leistungsdruck, der auf den Schultern von Schülern und Eltern lastet. Sind die Vereine noch zu retten?
Garant sozialer Ordnung
„Ängste sind bei uns da“, sagt Bernhard Alscher, Bürgermeister von Birkenfeld im ländlichen Rheinland-Pfalz an der Grenze zum Saarland. Die Gemeinde befürchtet, dass das Vereinsleben durch die Ganztagsschulen durcheinander gewürfelt werden könnte. Dabei sind Alscher zufolge Vereine gerade heute unersetzlich: in einer Zeit, in der das Internet und die Medien Kinder und Jugendliche immer mehr absorbierten. „Nur über Vereine lassen sich soziale Strukturen erhalten.“
Die Verbandsgemeinde spüre schon jetzt, dass ein Großteil der Bevölkerung immer älter werde und gleichzeitig weniger Kinder geboren würden. Um angesichts der demografischen Entwicklung den Kontakt zum Nachwuchs nicht zu verlieren, hat etwa der SC Birkenfeld Fußballkurse in den Ganztagsschulen angeboten. „Wir konnten zwar neue Mitglieder gewinnen, doch auf Dauer klappte die Organisation nicht, weil unsere ehrenamtlichen Trainer alle berufstätig sind“, sagt Helge Dietze, Jugendleiter des Fußballvereins.
Grenzen der ehrenamtlichen Arbeit
„Ein Nachmittagsangebot an der Ganztagsschule zu kreieren ist für Vereine schwierig, weil sie vorwiegend mit ehrenamtlichen Kräften arbeiten, die beruflich voll
eingespannt sind“, erläutert Claudia Busch, Mitautorin der Studie Ganztagsschule in ländlichen Räumen (GaLäR) der Universität Jena und der Agrarsozialen Gesellschaft Göttingen. „Teilweise haben sie auch Hemmungen, die pädagogischen Anforderungen für ein gutes Angebot über einen längeren Zeitraum zu erfüllen.“ Ziel der Ende Juni 2010 abgeschlossenen Studie ist es, die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Jugendarbeit in der
Sekundarstufe I in dünn besiedelten ländlichen Regionen von Rheinland-Pfalz und Thüringen zu untersuchen. Zwölf Schulen, 24 Dörfer und 40 Vereine waren einbezogen.
Ein wichtiges Ergebnis der Studie: Dorfvereine sind von „verschiedenen
Modernisierungserscheinungen“ betroffen, die sie mitunter in ihrer Existenz gefährden können: Die Ganztagsschule ist dabei ein Faktor. Und: „Je ländlicher die Strukturen, desto größer die Auswirkungen auf die Vereine“, so Claudia Busch. Da das Vereinsleben üblicherweise erst am späten Nachmittag beginnt, konkurrierten Vereine und Ganztagsschule nicht so sehr um die Zeit der Schüler als um das
knappe Gut verfügbarer Räume. Vermehrt stellten die Befragten zudem fest, dass Ganztagsschüler nach einem langen Schultag zu müde sind, um an Gruppentreffen ihrer Vereine teilzunehmen. Wenn dann auch noch Hausaufgaben zu erledigen seien, reiche ihre Energie nur noch zum
passiven Medienkonsum. Erschwerend komme auf dem Land hinzu, dass die Dorfjugend bisweilen lange Wege
in Kauf zu nehmen habe, um zum Verein zu gelangen.
Rahmenbedingungen sorgen für Verlässlichkeit
Trotzdem ist die Zahl der Vereine, die mit Ganztagsschulen gemeinsame Sache machen, kontinuierlich gestiegen. In Rheinland-Pfalz hat beispielsweise jede der rund 460 Ganztagsschulen einen geeigneten außerschulischen Kooperationspartner gefunden, sei es auf dem Land oder in der Stadt. Damit kein Verein die Bedingungen für die Kooperation mit einer Schule selbst aushandeln muss, wurden mit 24 Verbänden und Organisationen sogenannte Rahmenvereinbarungen abgeschlossen. Auf diesem Weg sorgt das Land für Kontinuität, etwa indem die Verbände den Ganztagsschulen Vertretungsstunden für erkrankte Übungsleiter zusichern.
Die Spitzenstellung unter den außerschulischen Partnern nimmt laut Johannes Jung, Referatsleiter im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur in Mainz mit rund 76.400 Schulstunden der Landessportbund und seine Vereine ein, das sei ein Drittel des den Ganztagsschulen insgesamt zustehenden Zeitrahmens. Danach folgen Kirchen und Musikschulen.

Wo der Schuh drückt: knapper Raum
„Wir können davon ausgehen, dass ein erheblicher Anteil der als AGs organisierten Bewegungs- und Sportangebote am Nachmittag von außerschulischen Partnern, vor allem von den Sportvereinen durchgeführt wird“, so Ralf Laging, Sportwissenschaftler an der Universität Marburg. Lagig zufolge sind Bewegungs- und Sportaktivitäten überhaupt eines der „sichtbarsten Zeichen der Ganztagsschule“: Zeichen, die es vom Verein zu nutzen gilt. Viele Vereine sind auch zur Kooperation bereit: „In unserer Untersuchung haben wir zeigen können, dass die Hälfte aller Ganztagsschulen mit Vereinen kooperieren, die andere Hälfte sorgt mit eigenem Personal, mit Eltern und anderen Ehrenamtlichen für ein ordentliches Bewegungs- und Sportangebot“. Doch es hakt an der Infrastruktur: In Bayern, Brandenburg, Sachsen und Thüringen führt die hohe Ganztagsschuldichte, also die Anzahl der Ganztagsschulen bezogen auf die Einwohnerzahl, zu einer nachweisbaren Verknappung von Sportstätten.
Sind Ganztagsschulen für Vereine nun Chance oder Risiko? „Sowohl als auch“, meint Bürgermeister Alscher. Deshalb sei „da Phantasie gefragt“. Die Wissenschaftler empfehlen, die Verantwortung für die Kooperation in kommunalpolitische Hände zu legen, und sich auf regionale Bildungsbündnisse zu verständigen.