Das Programm „weltwärts“
entsendet junge Deutsche als Freiwillige in die ganze Welt. Die
Wie jeden Morgen tritt die 19-jährige Svenja durch das blaue Eisentor in den ruhigen, schattigen Hof mit dem zweistöckigen Schulgebäude und dem Spielplatz und viele Kinder rennen auf sie zu. Ein Junge mit Trisomie 21 umarmt sie innig und ruft „aka“, was „Schwester“ bedeutet. Ein Mädchen mit kurzen Haaren und dunklen strahlenden Augen zupft sie am Ärmel und zeigt auf sein Fußkettchen. Sprechen hat es nie gelernt. Svenja formt Zeigefinger und Daumen zu einem Kreis, das bedeutet „super“. Seit September 2013 arbeitet Svenja an der Schule für Kinder mit geistiger Beeinträchtigung in der südindischen Stadt Madurai.
Ins Land der vielen Farben
Wie viele ihrer Altersgenossen wollte Svenja nach dem Abitur etwas von der Welt sehen. „Aber ich wollte nicht einfach nur weggehen und eine Reise machen“, sagt sie, „sondern ich wollte etwas mit Sinn machen, wo ich etwas Gutes hinterlasse.“ Warum aber in Indien? Das Land habe sie schon immer interessiert, sagt sie. „Meine Mutter war oft in Indien und hat mir von klein auf davon vorgeschwärmt.“ Von den bunten Farben, den Elefanten und den verschiedenen Kulturen und Religionen. „Indien hat einfach so einen Zauber, weil es etwas komplett anderes ist.“
Zu Hause in Karlsruhe stieß ihr Plan auf Bewunderung. „Ein Großteil meiner Freunde fand es mutig, allein nach Indien zu gehen“, sagt sie. „Sie unterstützen mich in allen Belangen.“ Das gibt ihr Sicherheit. Um Familie und Freunde auf dem Laufenden zu halten, berichtet sie in einem Blog über ihre Erfahrungen in Indien.
Die jungen „weltwärts“-Freiwilligen
Svenja ist eine von Tausenden jungen Deutschen, die es jedes Jahr nach dem Schulabschluss
in die Ferne zieht. Allein
Auch Haare kämmen wird gelernt
Einhundert Kinder und Jugendliche besuchen die Schule. Sie sind zwischen zwei und 27 Jahren alt. Manche haben eine leichte geistige Beeinträchtigung, andere eine schwere. Die Kinder lernen hier nicht nur ein wenig lesen, schreiben und rechnen, sondern auch, wie man sich die Zähne putzt, sich die Haare kämmt oder sich anzieht. Svenja unterstützt entweder die Lehrerin in der Klasse oder nimmt sich ein einzelnes Kind und hilft ihm.
Jeden Tag etwas anderes
Jeden Morgen besprechen die Lehrkräfte mit den Freiwilligen, wer gerade wo gebraucht wird. An diesem Tag ist Svenja bei den Jungs. In einem großen Raum im zweiten Stock arbeiten sechs junge Männer an einer brummenden Maschine. Sie stanzen und kleben Tee- und Kaffeebecher aus Pappe, die auch verkauft werden. Das ist das Ausbildungsprojekt der Schule und soll auf eine einfache Arbeit vorbereiten.
Daneben sitzen die Jüngeren an einem langen Tisch und schreiben. Ein 15-Jähriger malt große Buchstaben nach, die die junge indische Lehrerin vorgeschrieben hat, sein Nachbar löst leichte Rechenaufgaben und Svenja hilft einem anderen Teenager dabei, zwei gleiche Zahlen zu erkennen. Der zieht den Stift langsam und mit viel Kraftanstrengung von einer Zahl zur anderen. „Super, sehr gut“, lobt Svenja ihn. Der Junge strahlt über das ganze Gesicht. Loben motiviert, das weiß sie aus der eigenen Schulzeit. Oft hilft sie auch dem Physiotherapeuten, der die Kinder mit zusätzlicher körperlicher Behinderung behandelt. „Da er nur zwei Mal pro Woche kommen kann, mache ich die restlichen drei Tage die Physiotherapie“, sagt sie und erzählt, dass einige Kinder sich jetzt schon besser bewegen könnten als am Anfang. Das macht sie froh.
Gründlich vorbereitet
Auf ihre Arbeit und die Kulturunterschiede wurde sie vom Verein gründlich vorbereitet: mit einem neuntägigen Seminar für alle Freiwilligen des Vereins und mit extra Indien-Tagen, an denen es Vorträge gab und ehemalige Freiwillige von ihren Erfahrungen im Land erzählten. Sie hat gelernt, wie die Hierarchien und das das Verhältnis von Frau und Mann in Indien sind, wie man hier mit Problemen umgeht und sich als Ausländer im Land integriert. Für Svenja hat alles perfekt geklappt. Die Lehrer und Lehrerinnen in der Schule haben sie freudig aufgenommen und sich gut um sie gekümmert, es gab keine unlösbaren Probleme. Auch die Kinder sind ihr ans Herz gewachsen. Wenn sie von ihnen spricht, dann klingt es, als ob sie sie schon ewig kennt. Überhaupt strahlt sie viel Optimismus und Freude aus. Auch auf die Kinder, die nur in einem Stuhl sitzen und in die Luft starren, geht sie voller Enthusiasmus zu.
Und diese Motivation und posititve Energie schätzt Shamila Doris sehr. Sie ist die verantwortlich für die Schulen des Vereins in Madurai. „Es ist wunderbar, wie viel Leidenschaft und Engagement die Freiwilligen haben“, sagt sie. „Sie bringen neue Ideen mit und motivieren auch uns.“ Sie weist auf die „kinderfreundlichen Klassenzimmer“ mit den vielen bunten Bilder, die verschiedene Jahrgänge von Freiwilligen gemalt haben: eine Unterwasserlandschaft mit Fischen, ein Wald mit Affen und Giraffen, dazu Früchte, Autos und vieles mehr.
Ganz anders und doch schön
Indien ist genauso wie Svenja es sich vorgestellt hat: lebhaft, quirlig, mit freundlichen Menschen und Kühen, die auf der Straße umherlaufen. Ganz besonders beeindruckt sie, wie gastfreundlich die Menschen sind. Dann ist da aber auch die Armut. „Das zu sehen, war nicht immer leicht“, sagt sie. Auch über die Straße zu gehen, ist immer wieder eine Herausforderung. „Rikschas, Menschen, Kühe, Motorradfahrer, man wird fast überfahren“, sagt sie.
In Bezug auf die Kommunikation findet sie ungewöhnlich, dass in Indien Kritik nicht direkt gesagt wird. „Die Inder sagen nie: Das war nicht gut, das könntest du das nächste Mal besser machen“, sagt sie. In Deutschland ist das ja gang und gäbe. „Hier bekommt man immer eine positive Rückmeldung. Das ist natürlich motivierend, aber wenn man neu ist und etwas verbessern will, dann ist das natürlich schwierig“, sagt sie und erzählt, wie sie vor einiger Zeit mit einem Kind die Farben geübt und danach um Feedback gebeten hat. Die Lehrerin fand alles gut. „In der nächsten Stunde habe ich mitbekommen, dass ich grün und rot vertauscht hatte und dem Mädchen die Farben falsch beigebracht hatte.“
Nicht nur helfen - auch für die Zukunft lernen
Bald ist ihre Zeit an der Schule zu Ende. „Ich kann es mir noch gar nicht vorstellen“, sagt sie. „Wahrscheinlich wird es ein tränenreiches Ende. Aber ich habe so viele schöne Erinnerungen und habe so unglaublich viel gelernt.“ Zum Beispiel, sich selbstständig zu organisieren, unbefangen auf fremde Menschen zuzugehen, aber auch den eigenen Wohlstand mehr zu schätzen und sich weniger Stress zu machen. „Indien ist so ein entspanntes Land“, sagt sie. „Von den Indern habe ich gelernt, dass man auch mal kurz durchatmen kann und alles nicht ganz so wichtig nehmen muss.“
Im Herbst fängt sie an zu studieren. Da sie auf einem wirtschaftlichen Gymnasium war, wird es wohl ein wirtschaftliches Fach, ganz genau weiß sie es aber noch nicht. „Mein soziales Engagement möchte ich dann in der Freizeit ausleben“, sagt sie, „und mich voll motiviert und glücklich nach der Arbeit in den Bereich schmeißen“. Denn Motivation ist bei sozialer Arbeit besonders wichtig. Auch das hat sie in Indien gelernt. Denn zum Glück gibt es Programme wie „weltwärts“, die den Mobilitätsdrang der Jugendlichen mit ihrem Wunsch, sich auch sozial zu engagieren, so gut verbinden.
Warum hast du dich nach dem Abitur für einen Freiwilligendienst entschieden?
Was hast du denn in deiner Zeit in Indien gelernt, das dir später auch beim Studium oder im Beruf nutzen könnte?